DEN STERNEN ENTLANG

Camino de Santiago (Spanien) - Kailash (Tibet) - Qoyllur Rit'i (Peru)

Leseprobe

Ein ausgelassener, lärmender Zug wälzt sich Richtung Gletscher. Je höher die Pilger kommen, umso lauter wird's. Die Vorfreude lockert die Zungen. Wegmarken zählen die Kilometer, später die Meter.  Al papacito lese ich auf einem handbemalten Schild. Das muss er sein, der Señor , der gute Vater und Hirte. Und dann plötzlich sind wir da. Ich fühle mich wie reingeworfen in einen brodelnden Topf von Menschen und versuche nach Kräften, über den Rand des Kessels hinauszublicken. Ich sehe ein Hochplateau, beschattet von einer Reihe eindrücklicher Berge und Gletscher. An einem der Hänge steht eine schlichte Kirche.

Mein Herz rast, die Lungen brennen. Ich setze mich auf die Stufen vor der Kirche und ringe nach Luft. Vor mir ein Treiben, das alle Sinne in Beschlag nimmt. Garküchen neben Zelten und Verkaufsbuden mit heiligen Waren aller Art, Marktschreier, Wahrsager mit Gürteltieren, Affen und Papageien, erschöpfte Pilger. Durch die Masse der Leute schiebt sich eine nicht enden wollende Kolonne von Tänzern und Musikern. Vor der Kirche bauen sich die lärmenden Gruppen auf und setzen zu ihren Vorführungen an, ehe sie ins Innere des Gotteshauses weiterziehen. Die Formationen kollidieren, spielen gleichzeitig in allen Tonlagen, allein die Trommler halten den Rhythmus. Alle fallen übereinander her: Flöten, Harmonikas, Geigen, Schlaginstrumente, Stimmen. Es sind keine sanften Choräle, sondern fiebrige, erregte Lieder und Stücke, die hier aufbranden. Mehrere Melodien hängen in der Luft, verhallen in einer einzigen Symphonie. Ihre Klänge wirbeln die Gletscher und Berge hinauf. Zwischen den Tänzern, Musikern und Zuschauern die Ukukus, die Zeremonienmeister: seltsame Wesen aus der indianischen Unterwelt. Sie drängen sich durch die Menge, lassen ihre Peitschen knallen, schreien, befehlen, treiben die Gläubigen durch die Kirche: Jayu, jayu . Sie sollen für Ordnung sorgen, heißt es. Ordnung? Obwohl ich nur da sitze und schaue, fühle ich mich gejagt. Vor mir ein Spektakel, die Bühne eines urzeitlichen Freilufttheaters, eine in die Jahre gekommene Inszenierung. Die Ehrengäste schweben oben im Himmel, das Fußvolk hockt am kalten Boden und sieht zu, wie sich die Tänzer und Musiker produzieren. Wer kennt noch das Stück? Regieanweisungen so alt wie die Steine, eine Sprache, die sich nicht mehr entschlüsseln lässt. Botschaften aus einer Welt, die längst hinter dem Horizont verschwunden ist und dort weiterlebt, wo die Chronisten der spanischen Eroberer ins Stottern geraten sind und die Geschichtsbücher schweigen. Ein Mysterienspiel verschließt seine Geheimnisse.

Susanne Schaber ©